2. Bundesliga

Magdeburgs Triumph 1974: Seguin und Hoffmann im Interview

Magdeburgs einmaliger Europapokal-Sieg über Milan

Seguin und Hoffmann im Interview: "Die kannten nicht einen Spieler von uns"

In den legendären Bademänteln: Jürgen Sparwasser (vorne re.) und die Magdeburger feiern den Europapokal.

In den legendären Bademänteln: Jürgen Sparwasser (vorne re.) und die Magdeburger feiern den Europapokal. imago images

Wolfgang Seguin und Martin Hoffmann treffen kurz nacheinander auf dem Parkplatz vor der MDCC-Arena in Magdeburg ein. "Heinz-Krügel-Platz" heißt das Areal vor der Heimstätte des aktuellen Zweitligisten, eine Statue der Magdeburger Trainer- Legende zeugt von der großen Bedeutung Krügels für den FCM. Seguin und Hoffmann lassen sich vor dem Denkmal für den Meister-Coach ablichten, der Flachs blüht, und der Umgang der beiden Magdeburger Europapokal-Sieger ist sehr herzlich. Beim Betrachten der Fotowände im Innern des Stadions und beim Gespräch mit dem kicker schwelgen die FCM-Helden in Erinnerungen.

Herr Seguin, Herr Hoffmann, welche Farbe haben Ihre Bademäntel?

Martin Hoffmann: Weiß.

Wolfgang Seguin: Meiner ist auch weiß.

Das sind aber Ihre eigenen.

Hoffmann: Klar.

Seguin: Das sind nicht mehr die von Rotterdam (schmunzelt).

Nach dem Europapokal-Sieg 1974 in Rotterdam gab es das legendäre Foto mit den weißen Malimo-Bademänteln. Wo kamen die her?

Seguin: Es hat damals geregnet, und damit wir uns nicht erkälten, hat man uns auf einmal Bademäntel gebracht. Die haben wir angezogen. Ich wollte meinen eigentlich mit nach Hause nehmen. Aber daraus wurde nichts.

Wann mussten Sie die Bademäntel wieder abgeben?

Seguin: Als wir nach der Siegerehrung in die Kabine kamen, ich hatte meinen Bademantel schon in meiner Sporttasche. Das wäre ein schönes Geschenk gewesen.

Für den Europacup-Triumph gab es eine Woche Urlaub in Bulgarien plus 5000 DDR-Mark als Prämie. Wofür haben Sie das Geld ausgegeben?

Hoffmann: Ach, das war so viel. Ich wusste gar nicht, was ich damit machen sollte (lacht).

Seguin: Ich habe es auf die Bank gepackt. Und zu den 5000 DDR-Mark habe ich noch einen Lada ohne Anmeldung bekommen. Also, ich habe ihn eher bekommen und musste nicht wie Otto Normalverbraucher damals zehn bis zwölf Jahre auf ein Auto warten.

Herr Hoffmann, Sie waren als einziger DDR-Fußballer bei den drei Highlights - Europapokal-Sieg 1974, WM 1974 und Olympia-Gold 1976 - dabei. War der Europapokal-Sieg der größte Erfolg in Ihrer Karriere?

Hoffmann: Ja. Die Olympischen Spiele stehen auf einem anderen Zettel, weil dort ja nicht nur A-Nationalmannschaften am Start waren. Wir haben zwar mit der Sowjetunion und Polen zwei Spitzenmannschaften im Turnier und in der Qualifikation die CSSR ausgeschaltet, die 1976 Europameister wurde. Aber es waren eben Olympische Spiele.

Krügels selbstbewusster Hinweis

Ihr Trainer Heinz Krügel sagte vor dem Erstrunden-Match bei NAC Breda, das in Rotterdam stattfand: "Wenn wir schon einmal hier sind, dann seht euch das Stadion und den Platz genau an, denn wir werden auch das Endspiel hier spielen." Haben Sie ihm das abgekauft oder gedacht: Jetzt spinnt er?

Seguin: Zuerst haben wir gedacht: Der Trainer ist nicht normal. Aber der Mann hat recht behalten.

Ihr Mitspieler Jürgen Pommerenke sagt über Krügel: "Er war ein Trainerfuchs." Was hat ihn ausgezeichnet?

Hoffmann: Er war wirklich ein Fuchs (lacht). Er hat sich eine Mannschaft zusammengestellt, die Qualität hatte und die europäische Spitze war.

Seguin: Wenn man daran denkt, wie er vor dem Endspiel jeden unserer Spieler scharfgemacht hat. Helmut Gaube etwa, der sonst nur in der Reserve gespielt hat, hatte die Aufgabe, den gesperrten Klaus Decker zu ersetzen und gegen Gianni Rivera (1969 Europas Fußballer des Jahres; Anm. d. Red.) zu spielen. Krügel hat Helmut erst mal erklärt, wer er ist: "Helmut", hat er gesagt, "Sie sind Diplom-Sportlehrer, und Gianni Rivera hat nicht mal einen Beruf." Stellen Sie sich das mal vor! Stimmt’s Martin?

Hoffmann: So hat der Trainer das gesagt.

Seguin: Krügel hat uns so viel Selbstvertrauen gegeben, ich habe tatsächlich irgendwann geglaubt, ich bin Weltklasse.

Sie, Herr Seguin, haben Krügel mal als besten Klubtrainer der DDR bezeichnet. Haben sich Walter Fritzsch, Meistertrainer bei Dynamo Dresden, oder Hans Meyer, Erfolgstrainer von Carl Zeiss Jena, etwa nie bei Ihnen beschwert?

Seguin: Nein. Ich habe das gesagt, dazu stehe ich. Und der beste DDR-Auswahltrainer war Georg Buschner, unter dem ich 1972 bei den Olympischen Spielen in München teilnehmen durfte - und an der WM 1974. Wobei es ja immer hieß, ich sei wegen einer Lüge zur WM gefahren.

Stimmt das nicht?

Seguin: Ich hatte mich im Europapokal-Finale an der Wade verletzt. Ich wollte aber unbedingt zur WM. Aber wenn mich damals nach dem Finale gegen Milan einer an der Wade angefasst hätte, wäre ich umgefallen und nicht mit zur WM gefahren.

Wer wäre an Ihrer Stelle denn gefahren?

Seguin: Mein Magdeburger Kollege Axel Tyll. Das wusste ich aber damals nicht, das erfuhr ich erst später. Ich dachte, Buschner wollte noch einen Jenaer mitnehmen (lacht).

Hat Ihnen Tyll das übel genommen?

Seguin: Am Anfang hat er nicht mit mir geredet. Ich wusste es aber wirklich nicht, dass er an meiner Stelle mitgefahren wäre. Er war wie ich schon bei der Einkleidung in der Sportschule Kienbaum (heute Olympia-Stützpunkt, 40 Kilometer östlich von Berlin; Anm. d. Red.), bei der ich zwei Stunden quasi auf einem Bein rumgehüpft bin. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie eine Verletzung.

Dass wir absoluter Außenseiter waren, war unser Vorteil.

Martin Hoffmann

Krügel hat die Mannschaft vor dem Finale in der Kabine mit einem kicker-Artikel motiviert. Dort stand "David gegen Goliath". Hat das etwas bei Ihnen ausgelöst?

Hoffmann: Allein die Tatsache, dass man in einem Endspiel steht, war schon Motivation genug. Und wenn man dann gegen Leute spielt wie Karl-Heinz Schnellinger oder Gianni Rivera ist der Ansporn natürlich noch größer. Wir waren uns darüber im Klaren, dass wir nicht chancenlos sind. Dass wir absoluter Außenseiter waren, war unser Vorteil.

Krügel soll sich vom kicker-Reporter vor Ort eine aktuelle Ausgabe besorgt haben. Hat er den Artikel an die Kabinentür gepinnt oder vorgelesen?

Hoffmann: Es kann sein, dass er den Artikel an die Wand gepinnt hat. Ich weiß es nicht mehr. Aber er hat solche Sachen öfter gemacht.

Ab wann spürten Sie im Spiel: Hier geht was?

Seguin: Wir haben bald gemerkt: Die kochen auch nur mit Wasser. Vielleicht haben die uns unterschätzt …

Hoffmann: …klar haben die uns unterschätzt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die nicht einen Spieler von uns kannten. Um den DDR-Fußball wurde international ja kein Tamtam gemacht.

Seguin: Dann kam kurz vor der Halbzeitpause das Eigentor zum 1:0, und da dachten wir: Schau an, da kann was gehen.

Karl-Heinz Schnellinger sagte später im kicker: "Magdeburg hat uns kaum zur Entfaltung kommen lassen." Wie haben Sie das geschafft?

Seguin: Ein Schachzug war Helmut Gaube gegen Gianni Rivera. Hinzu kam, dass Jürgen Pommerenke und ich im Mittelfeld gut eingespielt waren. Jürgen hat Fußball gespielt, und ich war für die Drecksarbeit zuständig. Hinten hatten wir gute Leute und vorne im Sturm Martin, Jürgen Sparwasser …

Hoffmann: … und Detlef Raugust.

Gaube meldete Rivera ab. War das der wichtigste Schachzug? Oder gab es noch andere taktische Kniffe?

Hoffmann: Nein. Krügel hat einen Wechsel vorgenommen von zwei Akteuren, die auf die gleiche Weise Fußball spielen. Klaus Decker war vielleicht noch ein bisschen aggressiver, aber vom Typ waren sie ähnlich.

Seguin: Krügel war übrigens ein Trainer, der auch die Meinung der Spieler angehört hat. Vor den Partien kam er oft abends noch zum Mannschaftsrat und hat gefragt: "Meine Herren, wie würden Sie denn spielen?" Wir haben unsere Meinung gesagt, aber die Entscheidung hat er selbst getroffen.

Was haben Sie vor dem Finale gegen Milan gesagt, wie die Mannschaft spielen will?

Seguin: Ich habe darauf gehört, was er gesagt hat (lacht). Krügel hat uns jedenfalls so auf das Spiel vorbereitet, dass er nur darüber gesprochen hat, was wir können und was Milan nicht kann.

Hoffmann: Er hatte ohnehin besondere Methoden. Manchmal hat er im Training einfach abgebrochen und gesagt: "Besser geht’s nicht. Lasst euch massieren. Tschüss." Er hat dann einfach sein Programm sein lassen und nicht durchgezogen. Krügel konnte umgekehrt aber auch extrem streng sein. Wolfgang Steinbach hat er mal im Training einfach reingeschickt und ihn dann vom Spiel ausgeschlossen. Was Krügel absolut nicht ab konnte, war, dass jemand widerspricht. Und Wolfgang hat auch als junger Spieler schon mal posaunt und auch mal über die Stränge geschlagen.

Sie, Herr Seguin, trafen nach Enrico Lanzis Eigentor zum 2:0. Es war ein Schuss aus spitzem Winkel. Wie konnte der eigentlich reingehen?

Seguin: Da muss man Klasse haben (schmunzelt). Ich erhielt den Pass von Axel Tyll, brauchte nur noch einen Gegner ausspielen, wurde aber ziemlich in Richtung Grundlinie abgedrängt. Ich habe den Ball dann aber so gut getroffen, dass er genau oben ins lange Eck gegangen ist.

Axel Tyll hat sogar den Ball jongliert. Ich dachte: Spinnt der?

Wolfgang Seguin

Wussten Sie da, dass sie gewinnen werden?

Seguin: Ja.

Hoffmann: Schon. Es war ja auch nicht so, dass wir total unter Druck gestanden hätten.

Seguin: Axel Tyll hat in der Endphase sogar den Ball jongliert. Ich dachte: Spinnt der? Was macht der denn da?

Hoffmann: Axel war ein echter Eisvogel. Und einer von acht Spielern, die binnen drei Jahren aus dem eigenen Nachwuchs kamen: Hans-Jürgen Achtel, Siegmund Mewes, Decker, Tyll, Pommerenke, Steinbach, Raugust und ich.

Rivera sah gegen Gaube kein Land.

Seguin: Stimmt. Und Helmut wollte auf einmal mitspielen. Krügel hat ihn an die Seitenlinie geholt und gesagt: "Junger Mann, kommen Sie mal: Rivera! Zum Spielen haben wir andere da."

Die Partie war groß, die Kulisse nicht. 4641 Zuschauer sind bis heute Minusrekord bei einem Europacup-Finale, nicht mal Ihre Ehefrauen durften mit zum Spiel ...

Seguin: … die hatten keine Zeit (lacht).

War das ein Wermutstropfen?

Hoffmann: Wir hatten andere Spiele, bei denen viele Zuschauer waren.

Seguin: Im Halbfinale bei Sporting Lissabon waren 70 000 Leute da.

Wolfgang Seguin gegen Karl-Heinz Schnellinger

Wolfgang Seguin gegen Karl-Heinz Schnellinger - und kaum einer schaut zu. Im De Kuip fanden sich lediglich 4641 Zuschauer ein. imago images

Hoffmann: Wenn wir verloren hätten, hätten wir bestimmt anders darüber geredet. Aus der DDR waren ja nur 150 ausgewählte Besucher da.

War es ungewohnt, in einem fast leeren Stadion zu spielen?

Hoffmann: Nicht unbedingt. Aber erst mal war schlechtes Wetter. Dann war zwei Tage vorher das Pokal-Endspiel der Niederlande, und da war der Rasen nicht in bestem Zustand. Und wäre das Spiel in der Bundesrepublik gewesen, wäre das Stadion wahrscheinlich mit Italienern voll gewesen.

Den Empfang am Alten Markt in Magdeburg verpassten Sie, weil Sie wie auch Jürgen Pommerenke, Jürgen Sparwasser und Axel Tyll direkt zum WM-Vorbereitungscamp des DDR-Teams nach Schweden fliegen mussten. Haben Ihnen Ihre Kollegen später erzählt, was Sie verpasst haben?

Hoffmann: Am Rathaus war mächtig was los. Und drumherum auch.

Und es gab für Sie keine Möglichkeit, den einen Tag mit nach Magdeburg zu reisen und mit den Kollegen zu feiern?

Hoffmann: Nein. Wir sind direkt nach Göteborg geflogen.

Seguin: … und ich saß zehn Tage im Vorbereitungscamp und konnte wegen meiner Wade nicht laufen.

Hoffmann: Du hast ja geschwindelt, wie wir wissen. Du bist selber schuld.

Seguin: Geschwindelt habe ich nicht …

Hoffmann: … auf die Zähne gebissen (lacht).

Haben Sie denn keinen Vorstoß unternommen, zur Feier nach Magdeburg zu dürfen?

Hoffmann: Das hatte keinen Zweck. Dann hätte Günter Schneider (damals Generalsekretär des DFV; Anm. d. Red.) gesagt: "Seid Ihr wahnsinnig? Dann könnt ihr gleich ganz zu Hause bleiben."

Die Spieler der Europapokalsieger- Mannschaft kamen ausnahmslos aus dem Bezirk Magdeburg. Wäre heute etwas Vergleichbares wie 1974 noch möglich?

Hoffmann: Nein. Und das gab es danach auch nie mehr. Es war historisch, dass der FCM so was auf die Beine stellen konnte und alle Spieler aus Magdeburg und dem Umland kamen.

Hat das den Zusammenhalt zusätzlich gestärkt?

Seguin: Absolut, bis heute. Wir treffen uns jedes Jahr um den 8. Mai herum für drei Tage, mit unseren Frauen.

Hoffmann: Natürlich. Zumal die meisten Jungs schon in der Jugend zusammengespielt hatten.

Was hat die Magdeburger Mannschaft damals eigentlich sportlich ausgezeichnet?

Seguin: Wir hatten einfach gute Spieler. Martin als Linksaußen, Jürgen Sparwasser im Sturm, im Mittelfeld Jürgen Pommerenke und hinten Manfred Zapf.

Hoffmann: Die Mischung stimmte, vom Alter und auch sportlich zwischen fußballerisch top ausgebildeten Spielern wie Jürgen Pommerenke und körperlich starken Spielern wie etwa Wolfgang.

Herr Seguin, was hätten Sie gern vom Fußballer Martin Hoffmann gehabt?

Hoffmann: Meine Frau (lacht laut).

Seguin: Du hast es gesagt, ich habe es gedacht (lacht). Als Fußballer hatte Martin fast alles: Technik, Schnelligkeit, Torgefährlichkeit. Er kam aus der Jugend …

Hoffmann: … und ich habe gleich im ersten Oberliga-Spiel ein Tor gemacht und im zweiten noch eins. Wolfgang hat mich quasi aufgenommen, als ich aus der Jugend kam. Ich war oft bei ihm zu Hause.

Die Europapokal-Sieger des 1. FC Magdeburg, 2004

Die Europapokal-Sieger des 1. FC Magdeburg zum 30-jährigen Jubiläum 2004 - noch mit Trainer Heinz Krügel (blaues Jackett). imago images

Und was hat Ihnen an Wolfgang Seguin imponiert, Herr Hoffmann?

Hoffmann: Wolfgang ist auf dem Platz immer vorneweg marschiert. Er war zudem unheimlich beständig in seinen Leistungen. Er hat immer sein Spiel gemacht.

Zum Showdown mit den Bayern kommt es verzögert

Das europäische Supercup-Finale gegen Bayern München wurde 1974 von der DDR-Seite abgesagt. Haben Sie die Politik damals verflucht?

Seguin: Schon. Es hieß damals von Seiten des DDR-Fußballverbandes DFV, man hätte keinen Termin gefunden. Wir hätten gerne den Supercup gespielt, wir waren in Höchstform.

Hoffmann: Das war ja eine Möglichkeit, sich zu zeigen. Wir wurden aber 1973/74 Meister, haben in der Folgesaison im Europapokal der Landesmeister gegen die Bayern gespielt.

Seguin: So viel Zufall gibt’s nicht (schmunzelt)

Hoffmann: Das Kuriose war, dass sowohl die Bayern als auch wir in der Saison 1974/75 in der 1. Runde des Europapokals der Landesmeister ein Freilos hatten. Und dieser Termin sollte für den Supercup genommen werden.

Im Achtelfinale des Landesmeister-Cups kam es zum Duell. Bayern gewann in München 3:2 und in Magdeburg 2:1. Im Hinspiel führte der FCM in München zur Halbzeit 2:0, dann verletzte sich Regisseur Pommerenke und Krügel brachte in Hans-Jürgen Hermann beim Stand von 2:1 einen dritten Stürmer. War das Übermut?

Seguin: Das war der einzige große Fehler, an den ich mich bei Krügel erinnern kann.

Hoffmann: Krügel war in der Halbzeit total überwältigt von unserer 2:1-Führung. Er war ganz anders als sonst.

Seguin: Hinzu kam Jürgen Pommerenkes Verletzung. Uns fehlte dann ein Top-Fußballer im Mittelfeld.

Wie waren die Kräfteverhältnisse im Rückspiel?

Seguin: Da waren die Bayern besser. Und Gerd Müller war überall. Der hat in den beiden Spielen vier der fünf Tore geschossen. Und das andere haben wir in München selbst geschossen, durch ein Eigentor von Detlef Enge.

Der FCM hatte mit Ihnen, Herr Hoffmann, aber auch mit Pommerenke, Tyll oder Raugust einige sehr junge Spieler im Finale dabei, Wolfgang Steinbach war im Kommen. 1975 wurde die letzte von drei DDR-Meisterschaften gewonnen, mit dem 1975 aus Rostock gekommenen Joachim Streich dann keine mehr. Was war der Grund?

Hoffmann: Meister sind wir danach nicht mehr geworden, aber mehrfach FDGB-Pokal-Sieger. Und wir sind mit der Mannschaft zweimal im Europacup-Viertelfinale in der letzten Minute ausgeschieden (1977/78 im UEFA-Cup-Viertelfinale 1:0/2:4 gegen die PSV Eindhoven, das entscheidende Gegentor im Rückspiel fiel in der 89. Minute; 1978/79 im Viertelfinale des Europapokals der Pokalsieger 2:1/2:4 gegen Banik Ostrau, das entscheidende Gegentor im Rückspiel fiel in der 86. Minute; Anm. d. Red.). Da standen wir beide Male praktisch schon im Halbfinale. Wahrscheinlich hatten wir 1975, als wir zum letzten Mal Meister wurden, die beste Mannschaft. Der Sieg des FCM blieb der einzige Europapokal-Triumph einer DDR-Mannschaft. Was fehlte dem DDR-Klubfußball für mehr internationalen Erfolg?

Seguin: Gute Frage.

Hoffmann: Ich weiß es nicht.

Wir hatten keine Spielerverträge. Ich habe mit 480 Mark angefangen.

Martin Hoffmann

DDR-Rekordnationalspieler Joachim Streich sagte mal: "Es war keine Frage des fußballerischen Formats, sondern des Kopfes und der Wettkampfhärte." Hatte er recht?

Seguin: Da ist was dran. Das Gefälle innerhalb der DDR-Oberliga war zu groß. Es gab Dresden, Jena, uns, Lok Leipzig, später den BFC. Die anderen haben mitgespielt.

Hoffmann: In den west- und südeuropäischen Ligen spielten viele Fußballer aus anderen Ländern. Das förderte den Konkurrenzkampf. Bei uns kam keiner rein. Und die Delegierungspraxis innerhalb der DDR-Oberliga war auch oft hemmend. Achim Streich zum Beispiel wollte 1975 gar nicht zu uns, sondern nach Jena. Er war mit Hans Meyer klar. Aber von oben hieß es: Du gehst nach Magdeburg.

Seguin: Die Spieler wurden damals von den Trägerbetrieben bezahlt, ich vom VEB Schwermaschinenbau-Kombinat "Ernst Thälmann" (SKET; Anm. d. Red.), wo ich Ingenieur war. Wonach wurdest du bezahlt?

Hoffmann: Nach Leistung (beide lachen). Nein, auch vom SKET. Wir hatten keine Spielerverträge, sondern Arbeitsverträge mit dem Trägerbetrieb. Da habe ich mit 480 Mark angefangen.

Seguin: (lacht) So wenig bloß?

Hoffmann: Ich hab ja bald danach mehr bekommen.

Seguin: Ich als Ingenieur 1165 DDR-Mark. Ich wollte nach dem Abitur 1964 Mathematik studieren. Aber Direktstudium und Leistungssport ging damals nicht. Da hab ich ein Fernstudium mit Manfred Zapf gemacht und wurde Maschinenbau-Ingenieur.

Krügel wurde 1976 vom DDR-Fußballverband als Trainer auf Lebenszeit gesperrt und als Objektleiter zur BSG Motor Mitte Magdeburg abgeschoben. Waren Sie geschockt?

Seguin: Wir waren in Magdeburg im Haus des Handwerks. Während der Vorbereitung auf ein Spiel hieß es, dass unser Trainer nicht mehr Trainer sei. Ich hab gedacht: Das gibt’s doch gar nicht. Das kam aus heiterem Himmel. Und wir haben dann gesagt: Heute spielen wir für Heinz Krügel.

1974 war bei der Begegnung gegen den FC Bayern die Münchner Kabine verwanzt, aber Krügel lehnte es ab, die aufgezeichnete Pausenansprache seines Trainerkollegen Udo Lattek zu nutzen.

Seguin: Lattek wusste, dass die Kabine verwanzt war. Er hat absichtlich nur Mist erzählt. Aber Krügel wollte nichts davon hören oder nutzen. Das wäre gegen seinen Sportsgeist gewesen.

Hoffmann: Ich lag nach dem Spiel mit Franz Beckenbauer und Sepp Maier im Entspannungsbecken.

Seguin: Da war ich auch dabei. Ging aber nicht lange. Es kam ein Offizieller und meinte, wir müssten raus. War zu viel deutsch-deutscher Kontakt.

Krügels Kampf

Wie viel von den Kämpfen, die Krügel auszustehen hatte, haben Sie damals mitbekommen?

Seguin: Ein bisschen was bekamen wir schon mit. Er war unbequem für die oben und hat sich nicht in den sportlichen Bereich reinreden lassen. Zum 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung hat er mal gesagt: "Dich kennt keiner. Mich kennt die ganze Welt."

Hoffmann: Er hat sich nichts gefallen lassen und selbst auch ein paar Spitzen gesetzt.

Seguin: Krügel hielt sich nicht an die DFV-Rahmentrainingspläne. Er hat die Belastung schon damals viel individueller gesteuert. Hätte er sich an die Rahmentrainingspläne gehalten, wären wir nicht so erfolgreich gewesen. Er hat uns mit seiner Art auf den Punkt fit bekommen.

Ihr Mitspieler Jürgen Sparwasser setzte sich 1988 in den Westen ab.

Seguin: Das war bei einem Altherren-Turnier in Saarbrücken. Da waren Martin und ich auch dabei. Plötzlich fehlten zwei Mann beim Essen: Jürgen Sparwasser und Martin Hoffmann.

Hoffmann: Ich hatte mich nur verlaufen, ich kam wieder.

Seguin: (lacht) Spari kam nicht wieder. Seine Frau war zu der Zeit auch gerade in der Bundesrepublik. Das hatten die bei der Stasi wohl übersehen, sonst hätte Spari gar nicht fahren dürfen.

Dachten Sie selbst mal an Flucht?

Hoffmann: Nein, nie.

Seguin: Ich war 1964 das erste Mal im Westen, in Luxemburg. Da hat Manfred Zapf und mich jemand von Alemannia Aachen in eine Bar geführt. Wir waren junge Bengel. Trotzdem kam es für mich nicht in Frage, meiner Heimat und meiner Familie den Rücken zu kehren.

Bedauern Sie es manchmal, dass Sie nicht 30 Jahre jünger sind und noch nach der Wende hätten Fußball spielen können?

Seguin: Nein. Ich war in meinem Leben nie neidisch. Wir haben zu einer anderen Zeit gespielt, und das war gut so.

Hoffmann: Stimmt. Wir hatten eine tolle Zeit.

Seguin: … auch ohne die Millionen, die heute verdient werden.

Der 1. FC Magdeburg hat nach der Wende den Anschluss verloren, aber zuletzt Boden gutgemacht. Wie sehen Sie die Entwicklung des Klubs?

Hoffmann: Positiv, was das Umfeld und die Infrastruktur angeht. Mit der Mannschaft und dem Fan-Potenzial, das wir haben, muss die 2. Liga gesetzt sein.

Seguin: Ich hatte wie ein paar andere vor dieser Saison die Flausen im Kopf, dass der FCM ein Geheimfavorit sein könnte. Aber viele Mannschaften haben sich auf die Spielweise mittlerweile eingestellt.

Wir Alten hätten stärker auf den Tisch hauen sollen.

Wolfgang Seguin

Der SC Magdeburg verkörpert im Handball europäisches Top-Niveau. Trauen Sie dem 1. FC Magdeburg auf Sicht die Bundesliga zu?

Seguin: Ich warte darauf und hoffe, dass ich es noch erlebe.

Hoffmann: Es steht und fällt mit dem Geld. Magdeburg ist eine Sportstadt, der SC Magdeburg ist im Handball Weltspitze. Dahin wird der 1. FC Magdeburg nicht kommen. Aber das Ziel muss es sein, sich in der 2. Liga zu etablieren und vielleicht mal in den Bereich zu kommen, wo es kribbelt und um den Aufstieg geht. Darmstadt, Paderborn oder Heidenheim haben es in den vergangenen Jahren vorgemacht.

Herr Seguin, Sie sagten mit Blick auf die Fehler des Klubs nach der Wende mal: "Wir Alten hätten stärker auf den Tisch hauen sollen." Warum haben Sie das nicht getan? Sie sind doch sonst nicht so zurückhaltend …

Seguin: Ich war 15 Jahre im Verwaltungs- beziehungsweise im Aufsichtsrat des Klubs. Das, was gesagt wurde, und das, was gemacht wurde, waren oft zwei verschiedene Dinge.

Hoffmann: Es wurden Management-Fehler gemacht, und Geld fehlte auch. Das Einzige, was den 1. FC Magdeburg damals am Leben gehalten hat, war der Mythos Europapokalsieg. Davon hat der Klub gezehrt. Sonst wäre er verschwunden.

Wann haben Sie sich zuletzt das Finale von 1974 noch mal in voller Länge angeschaut?

Seguin: Noch nie. Das ist Vergangenheit.

Hoffmann: Ich habe das Finale zu Hause auf einer VHS-Kassette, aber nie komplett angeschaut. Ich habe es gespielt, wir haben es gewonnen. Das ist das, was zählt.

Interview: Andreas Hunzinger, Steffen Rohr

Der fast vergessene Olympiasieg der DDR-Fußballer